dimanche 8 septembre 2013

Weil sie arm sind





Papst Franziskus hat es uns auf eindrückliche Weise in Erinnerung gerufen, was wir aus der Bibel schon lange wissen: Jesus stand auf der Seite der Armen. Die Evangelien erzählen uns auf Schritt und Tritt: von Arbeitslosen, Blinden, Aussätzigen, von Prostituierten, die oft der blanke Hunger auf die Strasse trieb, von Kleinbauern, für die die Steuerlast zu gross war...



Ausgerechnet für diese Leute schlug das Herz des Nazareners. Und das war nicht eine Marotte von ihm. Er konnte doch immer wieder in der Bibel lesen, wie sich der Ewige als Gott der Armen und Hungernden und Leidenden und Unterdrückten vorstellte, so zum Beispiel als er Mose schickte, sein Volk zu befreien:



Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs… Ich habe das Elend meines Volkes, das in Ägypten ist, gesehen, und ihr Schreien über ihre Treiber habe ich gehört; ja, ich kenne seine Leiden. Darum bin ich herabgestiegen…(Ex 3)



Der Gott Jesu ist ein Gott, der das Elend sieht und das Klagegeschrei hört, ein Gott, der nicht mehr an sich halten kann, wenn er Menschen in Not sieht.



Aber ausgerechnet mit dieser Feststellung tun wir uns schwer. Und unser Einwand – um nicht zu sagen Protest – ist seit jeher der gleiche: Die Armen sind doch um keinen Deut besser als die Reichen. Man frage nur jene, die es berufswegen täglich mit Armen zu tun bekommen. Unter den Armen gibt es nicht weniger Betrüger und Diebe, nicht weniger Neider und Lügner, nicht weniger Intriganten und Gewalttätige als anderswo auch.



Aber gerade das ist die Schwierigkeit, um die es geht: Wir meinen immer noch, Gott müsse so lieben wie wir; und wir lieben, weil die andern nett sind zu uns, weil die andern uns keine Schwierigkeiten machen, weil sie uns achten, weil sie gleicher Meinung sind wie wir, weil sie das Treppenhaus – wie es sich gehört – in Ordnung halten... Und so meinen oder erwarten wir auch von Gott, dass er nur die Ordentlichen liebt, Leute, die keine Schwierigkeiten machen, die am Sonntag zur Kirche gehen, die ihre Steuern bezahlen und weisse Westen tragen...



Wie von selbst kommt mir das Wort Jesu in den Sinn: Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben... Das tun doch auch die Sünder! Und wenn ihr nur denen Gutes tut, die euch Gutes tun... Tun das nicht auch die Heiden? Und wenn ihr nur die grüsst, die euch grüssen… Was tut ihr da Besonderes? (Mt 5,46-47)



Die Liebe Gottes ‚funktioniert’ eben nicht so wie die unsere, ja sie lässt sich mit der unseren gar nicht vergleichen, sie hat eine völlig andere ‚Logik’. Gott liebt und achtet die Armen nicht, weil sie gut oder gar besser sind als die Reichen. Gott liebt die Armen, weil sie arm sind.

 Um diese Liebe geht es.

Hermann-Josef Venetz

mercredi 4 septembre 2013

Kann man Gott lieben?

Vor nicht allzu langer Zeit habe ich an dieser Stelle die Einsicht geäussert, dass wir uns mit dem Wort »lieben« schwer tun, ganz besonders wenn wir jemandem gegenüber unsere Zuneigung bekunden wollen. Es klinge zu intim, zu gefühlvoll, zu romantisch. Statt dessen schlug ich eine Variante vor, die weniger verfänglich, dafür aber realistischer ist: »Ti voglio bene.« Man kann das umschreiben mit »ich will dir gut«, »ich möchte, dass es dir gut geht«, »du sollst du sein können«, »ich möchte zu dir stehen, was immer auch geschehen mag«. Im Unterschied zu dem eher verschwommenen und undefinierbaren »ich liebe dich« drückt das »ti volio bene« etwas Konkretes, Handfestes und Dauerndes aus, etwas auch, dass man lernen kann.

Die Frage die sich mir heute stellt ist die, ob wir diese Redeweise auch auf unsere Zwiesprache mit Gott übertragen können. Ich zweifle keinen Augenblick daran, dass mir Gott gut will, wenn ich auch selbst herausfinden muss, was das konkret bedeutet: dass er mich nicht im Stich lässt, wenn ich in einer misslichen Lage bin; dass er an mir festhält, auch wenn ich jemandem weg getan habe; dass er mir beisteht, wenn mich Angst befällt; dass er bei mir ist, wenn ich einem Fremden aus der Patsche helfe; dass er mich tröstet, wenn ich verletzt oder beleidigt bin. »Ti voglio bene« – ist das nicht eigentlich sein Name, wie er ihn dem Mose am brennenden Dornbusch kundgetan hat: »Ich bin der Ich-bin-Da, der, der mit dir geht, der dich nicht im Stich lässt«?

Hören wir mal in die Stille hinein, und wir werden seine Stimme vernehmen: »Ich bin für dich da. Ich lasse dich nicht. Ich bin mit dir. Ti voglio bene«.

Geht es nicht auch umgekehrt? Wir haben Mühe, Gott zu sagen, dass wir ihn lieben, weil das so phrasenhaft, so unverbindlich und darum auch so nichts sagend klingt; »lieben« kann ja alles Mögliche – oder auch nichts – bedeuten. Wenn ich Gott sage »ich will dir gut«, dann biete ich ihm meine Hilfe an, damit sein Werk gelingt. Dabei denke ich an seine Schöpfung, an unsere Mitwelt. Vor allem kommen dann all die Menschen in der Blick, die zu Gottes Leidwesen zu kurz kommen, die von uns zurückgewiesen werden und Hunger leiden, die aber ihm besonders am Herzen liegen. Der ganzen Welt und ihren Menschen will Gott gut sein – durch unsere Mithilfe. Wie denn sonst?

Wenn wir Gott sagen »ti voglio bene« schwingen wir uns ein in sein eigenes Gutsein und Erbarmen, wie wir es selbst in unserem Leben immer wieder erfahren.

Hermann-Josef Venetz

samedi 24 août 2013

Ti voglio bene





Mit dem Wort „lieben“ tun wir uns schwer. Es kommt nur sehr selten vor, dass wir jemandem sagen: „Ich liebe dich.“ Diese Aussage ist uns zu intim, zu persönlich, zu gefühlvoll, zu romantisch. Im Walliserdeutsch, das ebenerdiger klingt, gibt es diese Wendung überhaupt nicht – oder höchstens in der moderateren Form von „ich ha di gäre“.
Neulich sagte mir ein Mann, dem ich einen kleinen Dienst erwies, am Schluss eines Telefongesprächs: „Du, Hermann, ich ha di gäre.“ Mir blieb die Spucke weg und ich wusste nicht wie darauf reagieren. Ich sagte einfach: „Ja. Tschau, Marco!“ Sicher fand ich deswegen keine Antwort, weil mir noch nie im Leben ein Mann so etwas gesagt hat und weil ich darum auch nicht verstand, was er damit sagen wollte. Denn im „gern haben“ ist wie im „lieben“ zu viel Unbestimmtes, zu viel Verschwommenes, zu viel Unkonkretes, zu viel Schmus enthalten.
Und doch muss es möglich sein, unsere Sympathien, die wir für jemanden empfinden, auch ins Wort zu bringen. „Ich hab dich lieb“ sagt alles – oder eben auch nichts. Im Laufe der Zeit habe ich etwas gefunden, das ich sagen kann ohne zu erröten und ohne jemanden in Verlegenheit zu bringen. Ich kann es auch jemandem sagen, der mir nicht unbedingt sympathisch ist. Handfest und konkret kann ich dem Mitmenschen zu verstehen geben, dass ich zu ihm stehe, was immer auch passieren mag. Und damit es unverfänglicher klingt, sage ich es auf italienisch, das alle verstehen: „Ti voglio bene.“ Ich will dir gut. Ich möchte, dass es dir gut geht, dass du du sein kannst. Dahinter steht nicht undefinierbare Gefühlsduselei sondern die feste Absicht, mein Gegenüber nicht allein zu lassen, ihm in Schwierigkeiten beizustehen, ihm konkret zur Hand zu gehen.
Das „ich will dir gut“ kann man lernen, einüben mit jeder noch so kleinen Handreichung – im Unterschied zur Verliebtheit; die muss man nicht lernen, die ist plötzlich einfach da – und fast unbemerkt verschwindet sie nach einer Weile wieder. Das „ti volio bene“ hat etwas Dauerndes und Bleibendes. Und Konkretes.
Hermann-Josef Venetz

samedi 17 août 2013

Gott als Freiheit und Beziehung


Gott ist im Himmel – so heisst es im Vaterunser. Das meint vor allen Dingen, dass Menschen über ihn nicht verfügen können und auch nicht verfügen wollen. Sie wollen Gott Gott sein lassen. Sie wollen dem, der seinen Namen nicht preisgibt, sondern von sich sagt: Ich bin der Ich-bin-da (Exodus 3,14), das Geheimnis nicht entreissen. Sie wollen ihm die Freiheit lassen, so zu sein, wie er ist und so mit-zu-sein, wie er es für gut und richtig findet. Menschen fahren besser, wenn sie Gott so sein lassen, wie er ist und ihm nicht immer Vorschriften machen, wie er zu sein habe. Aus der Lektüre der Heiligen Schriften wird immer wieder deutlich: Gott ist sehr auf seine Freiheit bedacht; denn jede Einschränkung seiner Freiheit geht auf Kosten des Lebens der Menschen.

Gott ist auch auf die Freiheit der Menschen bedacht, weil ihm an der Beziehung zu den Menschen alles liegt. Beziehung, Liebe kann es ja nur geben, wo Freiheit ist. In diesem Sinn sind auch die Weisungen zu verstehen, die Gott den Menschen gegeben hat: sie sind Garantinnen für ein freies und gelungenes Leben.
Dadurch, dass Menschen zu Gott Vater unser oder auch Mutter unser sagen, werden sie über alle Grenzen und Schranken hinweg zu einer einzigen und einzigartigen Familie zusammengeführt – und Familie besteht ja aus Beziehungen. Menschen, die zu Gott Vater unser oder auch Mutter unser sagen, sind im Innersten und im Tiefsten geschwisterlich. In ihnen lebt die Kraft der Freiheit und der Solidarität mit allen Menschen – auch mit Gott.

Hermann-Josef Venetz

samedi 10 août 2013

Ein politisches Gebet




 Obwohl uns das nicht bewusst und vielleicht nicht einmal recht ist: Das Vaterunser ist zutiefst ein politisches Gebet. Die Bilder und Begriffe, denen wir in diesem Gebet begegnen, hatten zur Zeit Jesu und auch noch in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten eine eminent politische Bedeutung: Vater war ein Titel der römischen Kaiser. Das Reich rief sogleich das Römische Imperium in Erinnerung. An Brot war und ist nicht zu denken ohne die nie enden wollenden Kämpfe der Mächtigen vor Augen zu haben, die um die Ressourcen Kriege führen. Die Schulden wurden damals wie heute gnadenlos eingetrieben, auch Völkern und Staaten gegenüber, die sich verschuldet haben.
Mit verschränkten Armen können wir dieses Gebet nicht sprechen. Hingegen können wir uns bei jeder Bitte einbringen und dem Vater im Himmel unsere Hilfe anbieten. Vielleicht so: Dein Reich komme – mit unserer Hilfe kannst du rechnen. Dein Wille geschehe – wir wollen dir dabei zur Hand gehen. Unser tägliches Brot gib und heute – wir wollen es mit den Hungernden teilen.
Mit dem Vater im Himmel können wir die Welt verändern.
Hermann Venet 

samedi 3 août 2013

Ein Gebet zum Verweilen





Ich möchte wetten: Wenn uns jemand nur das Stichwort gibt ‚Vaterunser’ fahren wir gleich fort ‚im Himmel, geheiligt werde dein Name...’ und beten bis zum Schluss, und kaum ist das ‚Amen’ verklungen, stellen wir uns die Frage: ‚Was hab ich jetzt da beim Beten eigentlich gesagt?’ Das ist weiter nicht schlimm, das gehört zur Routine, und zur Routine gehören auch die Zerstreuungen. Nichts ist normaler als das.
Es gäbe ein einfaches Mittel gegen die Routine und auch gegen die Zerstreuung anzugehen: Wir beten nicht täglich das ganze Vaterunser, wir beten täglich nur eine Bitte aus dem Vaterunser, aber diese immer wieder. Zum Beispiel: Dein Reich komme; aber werden wir nicht gleich ungeduldig, wenn wir spontan fortfahren mit ‚Dein Wille geschehe’. Das kommt eben von der Routine her. Tun wir doch dieser zentralen Bitte Dein Reich komme den Gefallen, bei ihr zu verweilen, so dass diese Bitte den ganzen Tag uns begleitet und zu unserer einzigen Bitte wird, ja zum zweiten Ich und dass wir selbst Teil dieser Bitte werden. Was immer wir tun oder erleben, sagen wir einfach Dein Reich komme. Man kann, wenn man Lust hat, diese Bitte mit eigenen Worten formulieren: ‚Komm doch’ oder ‚Sei bei uns’ oder ‚Du bist da’ oder ‚Lass uns leben’ oder ‚Wir sind in deiner Hand’. Und wenn wir auch nur ein paar Sekunden Zeit haben, gehen wir doch die eine oder andere Szene aus dem Leben Jesu durch: wie er den Leuten zuhört oder wie er die Armen beglückwünscht  oder wie er mit ihnen das Brot teilt oder wie er den Leuten Geschichten erzählt oder wie er mit ihnen leidet... Und vergessen wir nicht, uns in diese Bitte hineinnehmen zu lassen: Dein Reich komme – auf meine Hilfe sollst du dich verlassen können.
Jede der Vaterunser-Bitten kann unseren Alltag verzaubern und in neuem Licht erscheinen lassen.

samedi 20 juillet 2013

Entgrenzungen




 Grenzen bieten Sicherheit. Wo Grenzen fallen, werden Menschen verunsichert. Es gibt Leute, für die ist Sicherheit wichtigstes Bedürfnis und wichtigste Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben der Bürgerinnen und Bürger. Für die meisten Menschen gehen  „Friede und Sicherheit“ zusammen und stehen zuoberst der Prioritätenliste.

Es geht dabei nicht nur um staatliche Grenzen. Es gibt auch Grenzen im Umgang miteinander, kulturelle, religiöse und konfessionelle Grenzziehungen. Wer solche Grenzen verwischt, verunsichert die Menschen und wird von der Gesellschaft abgelehnt.

Von Jesus von Nazaret lässt sich (fast) nur Gutes sagen. Er setzte sich für die Armen ein, heilte Kranke, befreite Menschen von verschiedenen Besessenheiten. Dagegen war und ist nichts einzuwenden, weder von der römischen Besatzungsmacht noch von den Frommen damals und heute. Was Jesus zum Verhängnis wurde, waren seine Grenzüberschreitungen: dass er mit dem Zöllner Levi und anderen schlechtbeleumdeten Menschen ass und trank; dass er die stadtbekannte Frau gewähren liess, die ihm die Füsse wusch, mit ihrem offenen Haar trocknete und dann erst noch küsste; dass er sich mit dem heidnischen Hauptmann auf den Weg machte, um dessen Sohn zu heilen; dass er die Ehebrecherin nicht der „gerechten Strafe“ der Steinigung zuführte.

Und dann sprach er erst noch von einem Gott, „der die Sonne aufgehen lässt über Böse und Gute und regnen lässt über Gerechte und Ungerechte“ (Matthäus 5,45). Er verwischt so die Grenze zwischen bös und gut, zwischen gerecht und ungerecht.

Der Gott Jesu ist nicht ein Grenzzieher. Ihm geht es nicht darum, die Guten zu belohnen und die Bösen zu bestrafen; ihm geht es um die Versöhnung. Das hat mit Beliebigkeit nichts zu tun, sehr viel aber mit der entgrenzten, entfesselten Liebe.

Hermann-Josef Venetz