jeudi 11 février 2016

...zu richten die Lebenden und die Toten




Jedes Mal, wenn ich das Glaubensbekenntnis spreche, gerate ich bei diesem Satz ins Stocken. Wie soll ich ihn verstehen? Soll ich mir dieses Kommen herbeisehnen – oder müsste ich es nicht eher fürchten? Werde ich vor dem kommenden Richter bestehen?
Biblische Bilder tauchen auf vom kommenden Richter, der die Völker zusammenrufen und die »Böcke« von den »Schafen« scheiden wird (Mt 25,31-46), wobei die einen das Reich in Besitz nehmen, die anderen hingegen in das ewige Feuer geworfen werden.
Die Darstellungen des Jüngsten Gerichts, wie wir sie in manchen Gotteshäusern finden, helfen dabei nicht. Zu tief haben sich die Bilder der Verdammten, die in die Hölle hinabstürzen, in unser Innerstes eingebrannt. Ich will diese Vorstellungen, die im Volksglauben fest verankert sind, nicht einfach über Bord werfen. Aber es gibt auch noch andere Möglichkeiten, das Wort vom »Richten« zu verstehen.
Nach Vorstellungen, wie wir sie unter anderem auch in der Bibel antreffen, ist der Richter an erster Stelle nicht derjenige, der nach genauer Buchführung die Menschen belohnt oder bestraft, sondern vor allem derjenige, der Menschen, die Unrecht erleiden, ins Recht setzt. Das ist das, worum zum Beispiel in den Psalmen die ungerecht Verfolgten bitten: dass Gott vor aller Welt deutlich macht, auf welcher Seite er steht, und dass den Erpressern, den Blutsaugern ganz klar gesagt wird, dass sie auf die falsche Karte setzen und sich vor aller Welt schämen müssen.
Nicht um Belohnung und Bestrafung geht es also an erster Stelle, sondern darum, dass das Richtige, das Recht sich durchsetzt und ans Licht kommt und dass diejenigen, die das ganze Leben lang ihrer Treue wegen unten durch mussten, aufgerichtet, rehabilitiert werden.
Das Bild vom kommenden Richter will den Menschen nicht Angst machen; im Gegenteil! Es ist ein Bild der Hoffnung und Befreiung für diejenigen, die Unrecht erleiden;  sie sollen Recht bekommen. Und zwar nicht erst im ‚Jenseits’. Der Kommende, der die Rechtlosen ins Recht setzt, gibt ihnen jetzt schon eine Stimme. Sie sind nicht länger nur Opfer, sondern jetzt schon Subjekt der eigenen Geschichte.
Das heisst aber auch für uns, dass wir uns nicht mehr abfinden mit Ungerechtigkeit und Gewalt, mit Unrecht und Unterdrückung, sondern beharrlich darauf bestehen, dass es etwas anderes geben muss. So wird die Vorstellung von diesem Kommenden gleichzeitig zum Bild der Hoffnung: Dass dieses »andere«, die Gerechtigkeit und die Liebe und der Frieden hier und jetzt, mitten unter uns, bereits greifbar wird.

Hermann-Josef Venetz

vendredi 5 février 2016

Nichts als die Verheissung ?





Ich habe einen Abreisskalender. Für jeden Tag hält er einen Gedanken bereit. Auf einem Blatt zur Jahreswende las ich:
Ich sagte zu dem Engel, der das alte mit dem neuen Jahr verbindet: »Gib mir ein Licht, damit ich festen Schrittes in die Ungewissheit des neuen Lebens schreiten kann.«
Aber er antwortete mir: »Geh hinaus in die Ungewissheit und lege deine Hand in Gottes Hand; das ist mehr wert als ein Licht und sicherer, als den Weg zu wissen.«
Als Quellenangabe stand unter diesem Text nicht etwa der Name eines Mystikers oder eines bekannten Kirchenvaters, sondern ganz einfach: Aus China.
Der Text verfolgt mich immer wieder, und es kommen mir Situationen und Erzählungen aus der Bibel in den Sinn. Schon zu Beginn der Geschichte Gottes mit den Menschen sagt der Ewige zu Abraham: Geh los! Weg aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft… in das Land, das ich dir zeigen werde… ich werde dich segnen… Und Abraham brach auf und hatte nichts als Gottes ‚Hand’: seinen Segen (Genesis 12,1ff).

Und ich denke an Mose am brennenden Dornbusch. Zu ihm sagt der Ewige: Und jetzt geh! Ich schicke dich zum Pharao; Du wirst mein Volk aus Ägypten herausführen… Ich werde mit dir sein. Nach etlichem Widerstand und manchen Absprachen macht sich Mose mit Aaron auf den schweren Weg zum Pharao und auf den noch schwierigeren Weg mit dem Volk durch die Wüste mit nichts in der ‚Hand’ als den Namen Gottes ICH-BIN-DA (Exodus 3).
Und ich denke an die Jünger auf dem Berg in Galiläa, wo der Auferstandene ihnen sagt: Macht euch auf den Weg und lasst alle Völker mitlernen und taucht sie ein in den Namen Gottes... Ich bin bei euch alle Tage, bis Zeit und Welt vollendet sind… Und sie machen sich auf den Weg mit nichts anderem in der ‚Hand’ als die Verheissung des Mitsein (Matthäus 28, 16-20).
So ist Gott – überall, wo wir ihm begegnen. Er schickt uns in die Ungewissheit. Aber seine Hand bedeutet uns Licht und Sicherheit.
Hermann-Josef Venetz

lundi 1 février 2016

Ich habe euch aufgespielt, und ihr habt nicht getanzt!

Ich bekam einmal zu einem bestimmten Anlass einen wunderschönen Holzschnitt geschenkt. Er stellt eine Gruppe finsterer Gestalten dar, unbeweglich, lustlos, starr. Vor ihnen tanzt und spielt beschwingt ein Flötenspieler. Darunter mit Bleistift der Satz: Ich habe euch aufgespielt, und ihr habt nicht getanzt!
Das Bild sollte an das Gleichnis erinnern, das sowohl Lukas als auch Matthäus in ihren Evangelien überliefern (Lukas 7,31-35; Matthäus 11,17-19). Kinder möchten spielen und machen ihren Gespanen auch entsprechende Vorschläge: »Spielen wir doch Hochzeit!« , »Spielen wir doch Beerdigung!« Aber von den anderen Kindern kommt nie eine Reaktion; sie haben einfach keine Lust. Ihnen sind die Vorschläge zu uninteressant.
Hier und da regt mich dieses Bild zur abendlichen Gewissenserforschung an. Ich frage mich dann, wo und wann hat mir heute der Flötenspieler zum Tanzen aufgespielt? Und ich denke an ganz konkrete Gegebenheiten, bei denen ich ebenso abweisend und finster aus der Wäsche geguckt habe wie diese traurigen Gestalten auf dem Holzschnitt. Ich denke an die Nachbarin; ihr krebskranker Mann ist im Krankenhaus; aber wenn ich der in die Quere komme, lässt sie mich vor einer halben Stunde nicht wieder los. Oder ich denke an meinen Kollegen; er hat mich zum Apero eingeladen, aber seine immer gleichen Witze kann ich schon nicht mehr hören. Ich denke an die Obdachlose, die vor der Post ihre komischen Zeitschriften verkauft. Ich habe so getan, als ob ich die Zeitschrift schon längst hätte. Ich denke an die kleine Gruppe engagierter Leute, die mir zumutete, mit ihnen zusammen an die Demonstration für die Sans-Papier zu gehen... Jedes Mal kam von mir ein gelangweiltes Abwinken. Ich bemerkte nicht, dass es jedes Mal der Flötenspieler war, der mir zur Hochzeit aufspielte.
Dann aber gab es doch Momente, an denen ich mitgetanzt habe. Es waren die schönsten des Tages.
Was mir das Gleichnis sagen will? Vielleicht dieses: Spiel doch mit! Lass dich ein auf den Reigen! Geh mit zum Fest, wenn dich der Flötenspieler doch so liebevoll einlädt!
Denn die Zeit zum Feiern ist da.
Hermann-Josef Venetz