samedi 30 mai 2015

Gott und die Welt zusammenbringen

 Jesus spricht von Gottes Kommen in Form von Gleichnissen. Er entwirft Bilder und erzählt Geschichten, wie sie auch aus unserem Leben gegriffen sein könnten. Dabei fällt auf: Wenn Jesus mit seinen Gleichnissen Gott und unsere so ganz und gar weltliche Welt zusammenbringt, gibt er sich nicht die geringste Mühe, diese unsere Welt schöner oder heiler oder liebenswerter darzustellen als sie ist.
Ein Mann sät Samen auf seinen Acker. Einiges fällt unter die Dornen, anderes auf den Weg, anderes fällt auf steinigen Grund, und bald schon es zeigt sich das Unkraut (Matthäus 13,4-9.24-30). So ist eben unsere Welt.
Der jüngere Sohn schmeisst dem Vater den Bettel hin, lässt sich das Erbe ausbezahlen, haut ab und vergeudet das ganze Vermögen durch ein verschwenderisches Leben (Lukas 15,11-32). So sieht es in der Welt aus.
Ein Priester und ein Levit lassen sich von einem zusammengeschlagenen Glaubensbruder nicht aufhalten; sie gehen an ihm vorüber (Lukas 10,30-37). Die Welt, in er wir leben.
Nirgendwo heile Welt, die da mit Gott und seinem Reich zusammengesehen wird. Unkraut, Verluste, zerbrochene Familien, betrügerische Angestellte, Hartherzigkeit ... –  eben so, wie die Welt aussieht: ohne Schminke, ohne die geringste Beschönigung. Jesus war Realist.
Freilich ist das noch nicht alles. Das Besondere an Jesus ist dies, dass er inmitten dieser Welt, in der nichts in Ordnung ist, Züge ausmacht, die überraschen, ja irritieren. Er sieht Möglichkeiten, die deutlich machen, dass nichts so sein muss, wie es ist. Mitten in dieser gnadenlosen Welt stellt er Alternativen fest, die die Welt in ein ganz neues Licht tauchen.
Wenn sich der ‚verlorene Sohn’ zum Vater aufmacht, bewegt er sich immer noch in der herkömmlichen Welt. Er wird dem Vater sagen: Ich habe gesündigt; ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein; mach mich zu einem deiner Tagelöhner. Ganz überraschend sieht der Vater noch eine völlig neue Möglichkeit: Er lässt den Sohn gar nicht ausreden, sondern geht auf ihn zu, umarmt ihn und setzt ihn wieder in die Rechte des Sohnes ein. Die entscheidende Frage ist die, ob dieser diese neue Möglichkeit zu ergreifen vermag oder ob er darauf pocht, sein Reuegebet zu Ende zu sprechen und so an der alten Ordnung festzuhalten. Ebenso entscheidend die Frage, ob der zu Hause gebliebene Sohn diese vom Vater eröffnete neue Möglichkeit zu ergreifen vermag. Hörer und Leserin haben selbst die Antwort zu geben, selbst eine Entscheidung zu treffen: entweder bei sich selber stehen zu bleiben, oder sich aufzumachen und am Fest teilzunehmen.
Der Sämann resigniert nicht. Geradezu trotzig sät er weiter in dem unerschütterlichen Vertrauen, dass das meiste auf gutes Erdreich fällt und dreissig, sechzig, huntertfache Frucht bringt. Weil hinter dem ganzen Unternehmen Gott steht.
Im Unterschied zum Priester und zum Levit fragt der Mann aus Samaria nicht nach Gesetz und Ordnung, nicht nach erlaubt und verboten, sondern lässt sein Herz sprechen und investiert alles, damit der Zusammengeschlagene wieder auf die Beine kommt.
So bringt Jesus Gott und die Welt zusammen. Er sieht die Welt so, wie sie ist, ohne Beschönigung, ohne Schminke. Aber er sieht in dieser Welt, gerade weil er sie mit Gott in Zusammenhang bringt, ganz neue, ja ungeahnte Möglichkeiten: die Möglichkeiten Gottes. Niemand braucht bei sich selbst und dieser Welt stehen zu bleiben; alle sollen aus dem tödlichen Gefüge ausbrechen können, sowohl der Vater wie auch die beiden Söhne, sowohl der Sämann wie auch der Samaritan wie auch der Priester und der Levit.
Oder auch so gesagt: Jesus entdeckt in dieser Welt, in der fast nichts in Ordnung ist, die Macht der Liebe und lädt uns ein, in dieser unserer ganz konkreten und unheilen Welt dieser Macht der Liebe zu trauen.
Hermann-Josef Venetz
Die Bibel – Tummelplatz des Betens


 Seit mehr als 40 Jahren beschäftige ich mich berufsmässig mit der Bibel. Wir finden darin eine schier unüberschaubare Vielfalt an Möglichkeiten, wie wir von Gott oder über Gott oder mit Gott reden könnten. Wenn ich die Bibel öffne, kann es vorkommen, dass gerade ein Prophet im Auftrag Gottes eine Rede hält. Ab und zu werden Lieder gesungen. Oft sind es einfach Erzählungen, die auf den ersten Blick mit Gott gar nichts zu tun haben. Sie berichten von Menschen, die ähnlich wie wir suchend und zweifelnd und hoffend unterwegs sind. Dann stosse ich auf Weisheitssprüche, die uralte menschliche Erfahrungen mit Gott und dem eigenen Leben zusammenbringen. Es gibt auch richtige Gebete. Sie sind wie Antworten auf bestimmte Anrufe. Das können durchaus Anrufe Gottes sein. Es können aber auch Anrufe des so genannten Schicksals sein, wie sie durch Krankheiten, durch Verfolgungen, durch Ungerechtigkeiten auf Menschen zukommen, Anrufe auch durch wundersame Erfahrungen wie Liebe und Verzeihen und Solidarität. Glaubende und Betende können in allem den Anruf Gottes hören.
Die ganze Bibel, das Alte wie das Neue Testament, ist immer beides: Anruf und Antwort. Wenn in der Bibel Gott zu Sprache kommt, ist das keineswegs eine Ein-Weg-Kommunikation und schon gar nicht eintönig. Er ist er nicht einfach Befehlshaber und Gesetzgeber. Viel öfter ist er der, der bittet und liebevoll zuredet, der ermuntert und ermutigt, der befreit und einlädt, der fragt und anklagt und droht – wie soll denn die Bibel anders von Gott reden als auf ‚menschliche Art’, und ‚in Bildern und Gleichnissen’?
Eben so oft wenn nicht öfters kommen in der Bibel Menschen zu Wort; sie ant-worten auf die Bitten und Anklagen und Einladungen und Drohungen Gottes. Und diese Antworten könnten vielfältiger nicht sein: jubeln und loben, preisen und danken, klagen und schimpfen, fluchen und lachen, fragen und weinen und schweigen...
Tatsächlich: Wenn wir die Bibel öffnen, geraten wir in einen permanenten Dialog zwischen Gott und den Menschen, und sobald wir in der Bibel zu lesen beginnen, treten wir in diesen Dialog ein, in den Dialog mit Gott, der uns anruft, in Frage stellt, verständnisvoll zunickt, schweigt, schmollt, lächelt... Dabei sind wir nicht allein; mit uns und bei uns sind unsere Glaubensmütter und Glaubensväter, mit denen zusammen wir auf Gott hören und ihm zu antworten versuchen: der Vater Abraham, die Mutter Sara, der Fürbitter Mose, die Pauken schlagende Mirjam, der tanzende David, der drohende Jeremia, der klagenden Ijob, die jubelnde Maria, die salbende Sünderin...
Beten mit der Bibel’ heisst: dabei sein, hören, mitreden, mitspielen…
Hermann-Josef Venetz

lundi 25 mai 2015

Flüchtlinge in der Mitte
Jedes Mal wenn ich die Bibel öffne, bin ich überrascht, wie oft dort Menschen, ja ganze Sippen und Völkerschaften auf der Flucht sind. Von daher versteht sich auch, dass in der alttestamentlichen Gesetzgebung so oft von Flüchtlingen und Fremden die Rede ist. Ja, man hat den Eindruck, als ob das Auf-der-Flucht-Sein und Fremd-Sein zum Wesen der jüdisch-christlichen Tradition gehören. Das schlägt sich sogar im Glaubensbekenntnis nieder.

Das fünfte Buch Mose, es wird auch »Deuteronomium« genannt, ist eine Sammlung von Reden, in denen Mose das Volk Israel, nachdem es während vierzig Jahren auf der Flucht war, auf das Sesshaftwerden im Gelobten Land vorbereitet. Der Abschnitt, den ich vor Augen habe, erinnert an eine Liturgie, in die hinein ein Glaubensbekenntnis eingebettet ist  (26,1-11):
Wenn du das Land, das der Ewige, euer Gott, euch geben will, in Besitz genommen und dich darin eingerichtet hast, dann sollst du die ersten Früchte deiner Ernte in einen Korb legen… und vor Gott bringen. Und sollst vor dem Ewigen, deinem Gott, folgendes Bekenntnis ablegen:
Mein Vater war ein heimatloser Aramäer. Als er am Verhungern war, floh er mit seiner Familie nach Ägypten und lebte dort als Fremder. Mit einer Handvoll Leuten kam er hin, aber seine Nachkommen wurden dort zu einem großen und starken Volk. Die Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns rechtlos und zwangen uns zu harter Arbeit. Da schrien wir zum Gott unserer Väter, und er hörte uns und sah unsere Rechtlosigkeit, unsere Arbeitslast und unsere Bedrängnis. Er führte uns mit starker Hand … aus Ägypten heraus und brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land, das von Milch und Honig überfliesst. Und siehe, nun bringe ich hier die ersten Erträge von den Früchten des Landes, das du, Gott, mir gegeben hast…
Den Bildern, mit denen die Tragik der Flucht beschrieben wird, begegnen wir jeden Tag in unseren Medien: Hunger, Obdachlosigkeit, Fremdheit, Rechtlosigkeit, Zwangsarbeit, Bedrängnisse aller Art.
Ebenso sehr beeindrucken mich aber auch die Äusserungen am Ende der Ausführungen:
Wenn du den Korb mit den Früchten des Landes vor den Altar gestellt hast, sollst du dich vor Gott niederwerfen. Dann sollst du fröhlich sein und dich freuen über alles Gute, das dein Gott dir und deiner Familie gegeben hat: du, die Leviten und die Fremden in deiner Mitte.
Sich mit den Fremden in unserer Mitte freuen können, ist nicht so sehr eine Zumutung als vielmehr eine Verheissung.

Hermann-Josef Venetz

dimanche 17 mai 2015

Eine Gewissenserforschung


Rein zufällig geriet ich über Internet in die Unterrichtsstunde des berühmten Pianisten Menahem Pressler. Er wird heuer 92 und ist immer noch voller Begeisterung und Leidenschaft. Um ihn herum waren einige junge Leute, die ihr Können und ihre Ausdruckskraft beim Meister vertiefen und vervollkommnen wollten. »Ich liebe die Musik«, sagte er den Anwesenden, »ich liebe den Komponisten, ich liebe die Zuhörerinnen und Zuhörer, ich liebe, was ich tue.«
Am Klavier sass eine junge Pianistin, die mich mit ihrem Spiel berührte. Aus der Mimik des Meisters schloss ich, dass auch er mit dem Dargebotenen zufrieden war, bis sich mehr und mehr seine Gesichtszüge verfinsterten. Plötzlich rief er laut: »Nein, nein, nein! So geht das nicht!«
Ich fand diese Intervention sehr streng, ja ungerecht.
Aber er fuhr fort: »Bis jetzt hast du geliebt, und ich hörte dir gerne zu. Jetzt willst du aber imponieren. Wenn du liebst, willst du was geben, gibst du was von dir, ja gibst du dich selbst. Jetzt willst du nur noch bekommen: Applaus, Erfolg, Bewunderung. Das ist nichts.«
Die Unterrichtsstunde des grossen Musikers ist Anstoss zur Gewissenserforschung – für mich und für alle, die so oder so in der Öffentlichkeit stehen, sei es als Musiker oder Lehrer oder Pfarrer oder Politiker oder was auch immer: Was ist die Triebfeder meines Redens und Tuns? Ist es die Liebe? Die Liebe zu den Menschen? Die Liebe zur Sache? Oder habe ich es auf den Applaus abgesehen? Auf den Erfolg? Auf die Komplimente, die man mir machen wird?
Und wie von selbst kommt mir der Passus im 1. Korintherbrief des Paulus Kapitel 13 in den Sinn:
Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete,
hätte aber die Liebe nicht,
wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke.
Und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis hätte…,
hätte aber die Liebe nicht,
wäre ich nichts.
Hermann-Josef Venetz