mardi 26 janvier 2016

...zu richten die Lebenden und die Toten




Jedes Mal, wenn ich das Glaubensbekenntnis spreche, gerate ich bei diesem Satz ins Stocken. Wie soll ich ihn verstehen? Soll ich mir dieses Kommen herbeisehnen – oder müsste ich es nicht eher fürchten? Werde ich vor dem kommenden Richter bestehen?
Biblische Bilder tauchen auf vom kommenden Richter, der die Völker zusammenrufen und die »Böcke« von den »Schafen« scheiden wird (Mt 25,31-46), wobei die einen das Reich in Besitz nehmen, die anderen hingegen in das ewige Feuer geworfen werden.
Die Darstellungen des Jüngsten Gerichts, wie wir sie in manchen Gotteshäusern finden, helfen dabei nicht. Zu tief haben sich die Bilder der Verdammten, die in die Hölle hinabstürzen, in unser Innerstes eingebrannt. Ich will diese Vorstellungen, die im Volksglauben fest verankert sind, nicht einfach über Bord werfen. Aber es gibt auch noch andere Möglichkeiten, das Wort vom »Richten« zu verstehen.
Nach Vorstellungen, wie wir sie unter anderem auch in der Bibel antreffen, ist der Richter an erster Stelle nicht derjenige, der nach genauer Buchführung die Menschen belohnt oder bestraft, sondern vor allem derjenige, der Menschen, die Unrecht erleiden, ins Recht setzt. Das ist das, worum zum Beispiel in den Psalmen die ungerecht Verfolgten bitten: dass Gott vor aller Welt deutlich macht, auf welcher Seite er steht, und dass den Erpressern, den Blutsaugern ganz klar gesagt wird, dass sie auf die falsche Karte setzen und sich vor aller Welt schämen müssen.
Nicht um Belohnung und Bestrafung geht es also an erster Stelle, sondern darum, dass das Richtige, das Recht sich durchsetzt und ans Licht kommt und dass diejenigen, die das ganze Leben lang ihrer Treue wegen unten durch mussten, aufgerichtet, rehabilitiert werden.

Das Bild vom kommenden Richter will den Menschen nicht Angst machen; im Gegenteil! Es ist ein Bild der Hoffnung und Befreiung für diejenigen, die Unrecht erleiden;  sie sollen Recht bekommen. Und zwar nicht erst im ‚Jenseits’. Der Kommende, der die Rechtlosen ins Recht setzt, gibt ihnen jetzt schon eine Stimme. Sie sind nicht länger nur Opfer, sondern jetzt schon Subjekt der eigenen Geschichte.
Das heisst aber auch für uns, dass wir uns nicht mehr abfinden mit Ungerechtigkeit und Gewalt, mit Unrecht und Unterdrückung, sondern beharrlich darauf bestehen, dass es etwas anderes geben muss. So wird die Vorstellung von diesem Kommenden gleichzeitig zum Bild der Hoffnung: Dass dieses »andere«, die Gerechtigkeit und die Liebe und der Frieden hier und jetzt, mitten unter uns, bereits greifbar wird.

Hermann-Josef Venetz

lundi 18 janvier 2016

Bibel und Zeitgeist





Ihr Frauen, ordnet euch den Männern unter!
Diese Aufforderung steht in der Bibel. Im 5. Kapitel des Briefes an die christliche Gemeinde in Ephesus. Bis vor wenigen Jahren gehörte dieser Satz zum eisernen Bestand der Liturgie bei kirchlichen Trauungen. Heute versucht man je länger je mehr, Lesungen dieser Art zu umgehen; sie passen ganz einfach nicht mehr zu unserem Welt- und Menschenbild.
Aber: Führt ein solcher Umgang mit der Bibel nicht in die  Beliebigkeit? Passen wir so die Bibel nicht unserem Zeitgeist an?
Ja, der Zeitgeist! Zu oft vergessen wir, dass es auch zu biblischen Zeiten einen Zeitgeist gab, sei es, dass die biblischen Verfasser davor warnten, sei es, dass sie selber immer wieder dem Zeitgeist verfielen.
Im gleichen Epheserbrief lesen wir nur wenige Verse später:
Ihr Sklaven, gehorcht euren irdischen Herren mit Furcht und Zittern… (Epheser 6,5).
Ich zweifle keinen Augenblick daran, dass sowohl die Aufforderung an die Frauen als auch die an die Sklaven von Männern – eben ‚Herren’ – niedergeschrieben wurden. Sie haben so ihren eigenen Zeitgeist von der Überlegenheit des Mannes über die Frau und der ‚Herren’ über die ‚Untertanen’ in die Bibel hineingetragen. Sie waren nie in der Schule des Nazareners, für den die Frauen nicht weniger galten als die Männer und der für die Sklaverei überhaupt nichts übrig hatte. Im Gegenteil. Er verstand sich ganz im Auftrag jenes Gottes, dem alles daran gelegen war, sein Volk aus der Sklaverei zu befreien, und mit seinem Volk glaubte er, dass Mann und Frau nach dem Bild und Gleichnis Gottes erschaffen sind.
Zur Zeit Jesu wie zur Zeit des Epheserbriefes war die Welt von der Zweitrangigkeit der Frau wie von der Richtigkeit der Sklaverei überzeugt. Sklavenaufstände und Gleichstellungsbestrebungen wurden von den Machthabern, den ‚Herren’, mit brutaler Gewalt unterdrückt. Wenn der Verfasser des Epheserbriefes die Sklaven auffordert, ihren irdischen Herren zu gehorchen, und die Frauen auffordert, ihren Männern untertan zu sein, gibt er dem damaligen Zeitgeist nach und steht im Widerspruch zum Geist Jesu, der gekommen ist, die Menschen von allen politischen, wirtschaftlichen und religiösen Zwängen zu befreien.
Beim Lesen der Bibel werden wir jeweils genau hinsehen müssen, wes Geistes Kinder die Verfasser waren. Nicht immer waren sie vom guten Geist geleitet; nicht selten verfielen sie dem jeweiligen Zeitgeist – eine Versuchung, die durchaus verständlich ist und von der auch die spätere Kirche nicht immer verschont blieb.
Achten wie  also beim Lesen der Bibel auf den jeweiligen Zeitgeist. Auf den damaligen, aber auch auf den heutigen. Das verlangt von uns einen kritischen Umgang sowohl mit unserer Zeit, wie auch mit der Bibel.
Hermann-Josef Venetz