samedi 25 août 2012



Beten als Wundermittel? 

Als Jugendliche haben wir es gelernt, und zwar bei unseren verehrten Lehrern am katholischen Gymnasium: Es ist schon richtig, für das gute Gelingen eines Examens zu beten; aber das Beten ersetzt das Studieren nicht. Eine Binsenwahrheit, würde man meinen. In Wirklichkeit wird diese Wahrheit immer wieder verdrängt. Der Beispiele gibt es genug.
- Wir beten für den Frieden in der Welt; an unserer Armee und unserer Waffenausfuhr soll es aber nichts zu rütteln geben.
- Wir beten für die Hungernden in der Welt; das hindert uns aber nicht daran, unseren Benzintank mit Kraftstoff zu füllen, der aus Getreide gewonnen wird, das vielen Hungernden fehlt.
- Wir beten für ein engeres Zusammenrücken der Völker und Nationen; aber wir schreien auf, sobald es an unseren Geldsack und an unsere wirtschaftliche Entwicklung geht.
- Bei der Eucharistiefeier betet der Priester: Mache die Kirche zu einem Ort der Wahrheit und der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens; der Vatikan weigert sich aber bis heute, die Menschenrechtskonvention zu unterzeichnen.
Eine bekannte Erzählung in neuer Version lautet so:
Ein Mann ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die plünderten ihn aus, schlugen ihn, liessen ihn halbtot liegen und machten sich davon.
Zufällig kam da einer vorbei. Er sah den Zusammengeschlagenen, ging dann aber an ihm vorüber. Ein zweiter, der des Weges kam, machte es ebenso. Es kam ein dritter. Der blieb stehen, stieg vom Pferd und sagte dem Halbtoten mit deutlich vernehmbarer Stimme: Ich werde für dich beten...
Beten ersetzt nicht das Studieren, auch nicht das Zuhören, auch nicht das Reden miteinander, auch nicht die tätige Hilfe, auch nicht den Protest. Menschen, die schnell das »Wundermittel Gebet« zu Hand haben, verdienen gewiss meine Ehrerbietung; ihre Menschenverachtung macht mir bisweilen Angst.
Hermann-Josef Venetz

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