Es
gibt Berufe oder auch Berufungen, die von den biblischen
Schriftstellern besonders aufs Korn genommen werden. Dazu gehören
vor allem die Hirten, die Lehrer und die Väter.
Der
Prophet Jeremia schleudert den Hirten das erschreckende Wehe
entgegen: Wehe den Hirten... Dazu muss man wissen, dass im
Alten Orient und in der Bibel mit den Hirten der König gemeint war,
die führenden Männer auch, Leute, die das Sagen hatten. Versprengt
und auseinandergetrieben habt ihr meine Schafe und habt euch nicht um
sie gekümmert... fährt der Jeremia-Text fort (Jer 23).
Auch
die Lehrer kommen nicht gut weg. Matthäus legt Jesus diese
Worte in den Mund: Ihr sollt euch nicht Lehrer nennen lassen…,
denn Lehrer ist nur einer: der Messias (Mt 23). Jakobus
schreibt seinen Lesern ins Stammbuch: Nicht zu viele von euch
sollten Lehrer der Gemeinde werden. Ihr wisst ja, dass wir Lehrer vor
Gottes Gericht strenger beurteilt werden als die anderen (Jak 3).
Auch
vom Vater-sein-Wollen sollten wir lieber die Finger lassen,
denn nur einer ist euer Vater: der im Himmel (Mt 23).
Die
Frage drängt sich auf, warum gerade diese drei »Berufe« einer so
harten Kritik unterzogen werden. Den drei Berufen ist gemeinsam, dass
sie sehr früh zu Bezeichnungen für kirchliche Ämter geworden sind
– bis auf den heutigen Tag. Wir haben in der Kirche Hirten,
ja sogar Ober-Hirten; wir haben in der Kirche Lehrer; es gibt
kein wichtigeres Amt als das Lehr-Amt; und sehr früh gab es in den
christlichen Gemeinden den Vater – heute gibt es sogar
(noch) den »heiligen« Vater.
Gemeinsam
ist den drei Berufen, dass sowohl der Hirt wie auch der Lehrer wie
auch der Vater über denen steht, die ihnen anvertraut sind.
Der Hirt steht auf einem erhöhten Platz, damit er die Übersicht
behält. Der Lehrer sitzt oder steht an einem erhöhten Podium, von
wo aus er alle sieht und damit alle ihn sehen können; er weiss ja
auch immer alles besser als die anderen. Nicht anders der Vater, der
nicht nur in der damaligen Zeit beinahe unumschränkte Herrschaft
über die Familie ausübte.
Die
biblische Kritik an Leuten, die fast naturgemäss über
anderen stehen (wollen), ist verständlich. In ihrem feinen Gespür
für das Gemeinschaftliche haben die biblischen Schriftsteller alles
angeprangert, was die Gleichberechtigung und die wahre
Geschwisterlichkeit beeinträchtigen könnte.
Hermann-Josef
Venetz