Es gibt kaum eine
Berufsgattung, die von den Propheten sowohl des Ersten wie auch die Neuen
Testamentes so sehr aufs Korn genommen werden wie die Hirten. Vergessen wir
nicht: Im Alten Orient war Hirte der
Ehrenname der Könige, der Notabeln, der Hohenpriester, kurz der Leute, die das
Sagen hatten.
Mit den Hirten musste man
sich gut stellen; sie standen so oder so am längeren Hebel. Auf sie kam es an,
ob die Schafe, d.h. die Leute zu essen hatten, ob sie Arbeit, Wohnung und
Aufstiegschancen hatten. Da war es besser, nicht aufzumucken.
Die Propheten standen den
Hirten sehr kritisch gegenüber. Schon die Tatsache, dass es so etwas wie Hirten
gab, ging ihnen gegen den Strich. Nach ihrem ererbten Glauben gab es nur einen
Hirten, und das ist der Ewige; niemand soll sich anmassen, irgend eine
Führerrolle übernehmen zu wollen. Die Propheten waren die einzigen, die das
Hirten-Spiel durchschauten – dazu waren sie ja Propheten.
Ezechiel, ein Prophet aus
dem ausgehenden 6. Jahrhundert v. Chr. sagte es im Namen des Ewigen so:
Weh
den Hirten Israels, die nur sich selber weiden.
Müssten
die Hirten nicht die Herde weiden?
Ihr
trinkt die Milch, nehmt die Wolle für eure Kleidung
und
schlachtet die fetten Tiere;
aber
die Herde führt ihr nicht auf die Weide.
Die
schwachen Tiere stärkt ihr nicht,
die
kranken heilt ihr nicht,
die verscheuchten holt ihr
nicht zurück…
Die Anklagen gehen weiter.
So weit, bis es – wie es scheint – Gott zu bunt wird, und er durch den
Propheten sagen lässt:
Jetzt
will ich meine Schafe selber suchen
und
mich selber um sie kümmern.
Ich
hole sie aus der Zerstreuung zurück
und
bringe sie auf gute Weide.
Die
verlorengegangenen will ich suchen,
die
vertriebenen zurückbringen,
die
verletzten verbinden…
Ich will ihr Hirt sein und
für sie sorgen, wie es recht ist. (Ez 34)
Ich wünschte mir, dass die Hirten – dazu zähle ich nicht nur die Hirten
in unseren Kirchen, sondern auch die Gemeindepräsidentinnen, die Staatsräte,
die Lehrerinnen, die Professoren, kurz: alle, die meinen, das Sagen zu haben –
ein bisschen Abstand nehmen von ihrer Hirten-Rolle, die doch nur eine sehr
vorläufige ist. Und dass sie je länger je mehr dem Hirten Raum geben, der allein die Menschen, die dann nicht mehr
Schafe sein werden, zum wahren Leben führen wird.
Hermann-Josef Venetz
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