Zur
Freiheit verpflichtet
Es
dürfte klar sein dass sich das Anliegen Jesu, wie es in der
Jesusbewegung anfanghaft realisiert wurde, nicht 1 zu 1 auf die
urchristlichen Gemeinden übertragen lässt. Wenn im Neuen Testament
von Gemeinden wie Jerusalem oder Korinth oder Antiochien oder Ephesus
oder Rom die Rede ist, sind das jeweils nur Momentaufnahmen. Jede
Gemeinde musste ihren eigenen Weg entsprechend den dort ansässigen
Gläubigen gehen, entsprechend der innergemeindlichen Gruppendynamik,
entsprechend auch dem soziokulturellen und politischen Umfeld. Trotz
der Verschiedenheiten lässt sich mit grosser Sicherheit folgendes
sagen:
1.
Die ideale christliche Kirche hat es nie gegeben. Darüber kann auch
Lukas nicht hinwegtäuschen, wenn er in der Apostelgeschichte von der
Gemeinde in Jerusalem sagt, die Menge der Gläubiggewordenen sei
ein Herz und eine Seele gewesen (4,32). Lukas sah sich wohl
deswegen veranlasst, in der Mitte der 80-er Jahre des ersten
Jahrhunderts seinen Leserinnen und Lesern ein Idealbild der Anfänge
vor Augen führen, weil die Zustände in den aktuellen Gemeinden eben
alles andere als ideal waren. Dass in den Anfängen der Kirche in
Jerusalem nicht alles zum besten stand, wissen wir übrigens von
Lukas selbst, wenn wir seinen weiteren Ausführungen aufmerksam
folgen.
2.
Jesus hat seinen Jüngerinnen und Jüngern bezüglich der
Organisation der Gemeinden keine konkreten Anweisungen gegeben.
Die Christen und Christinnen der ersten Generationen nahmen sich die
Freiheit, Kirche so zu gestalten, wie es für die Erfordernisse ihrer
Zeit wichtig und nötig war. Jede Generation hatte und hat selbst
dafür zu sorgen, Kirche so zu gestalten, dass die Sache Jesu
am besten zum Tragen kommt.
3.
Verbindlich sind also nicht die Strukturen und die Titel und die
Ämter und dergleichen; verbindlich ist die Freiheit, mit der wir für
unsere Zeit nach Mitteln und Wegen suchen sollen, damit die Sache
Jesu in unserer Welt Gestalt annehme.
4.
Diesem Auftrag wird die Kirche nicht dadurch gerecht, dass sie
überall auf der Welt ein einheitliches Kirchenmodell durchzusetzen
versucht. Kirche, wenn sie wirklich Kirche für die Menschen und für
die Welt von heute sein will, wird sich in den verschiedenen Kulturen
je anders und je neu verleiblichen müssen, und sie wird keine Angst
haben, dabei ihre Identität zu verlieren. Ihre Identität verlieren
wird sie dann, wenn sie nur noch darauf aus ist, den Besitzstand zu
wahren und zu bleiben, wie sie ist.
5.
Die Freiheit, zu der uns der Geist befreit und zu der uns das Neue
Testament verpflichtet, hat weder mit Willkür noch mit Beliebigkeit
etwas zu tun; sie ist vielmehr jene kreative Freiheit, die sich nur
im Glauben an den Messias Jesus und in der Auseinandersetzung mit der
Welt heute und im Hoffen auf die endgültige Befreiung verwirklichen
lässt.
Hermann-Josef
Venetz
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