Von Wahrheit haben
wir meist eine statische oder starre Vorstellung. Wenn etwas wahr
ist, dann ist es einfach so wie es ist. Zwei mal zwei sind vier; das
ist einfach so, und auf der ganzen Welt ist das so. Und auch in
hundert Jahren wird es so sein.
Dieser Wahrheitsbegriff
eignet sich im täglichen Leben, wenn wir zählen, rechnen, messen,
wiegen; es gibt wissenschaftlich überprüfbare Wahrheiten,
Gesetzmässigkeiten, Naturgesetze, auf die wir uns verlassen können.
Wenn ich ins Wasser springe, werde ich nass und wenn sich ein Ziegel
vom Dach löst, fällt er herunter.
Für die meisten
Ereignisse oder Geschehnisse in unserem Leben reicht dieser
Wahrheitsbegriff nicht aus, so wenn wir lieben, hoffen, uns freuen,
leiden. Unsere Trauer lässt sich nicht in Zahlen und Gewichten
messen, und Kindern, die tanzen und lachen kann ich nicht sagen: »Das
ist doch alles gar nicht wahr, was ihr da macht!« Wenn sich in
unserem Leben Geschehnisse nicht in Zahlen und Gewichten ausdrücken
lassen, bedeutet das nicht, dass sie deswegen weniger ‚wahr’
sind. Wenn zwei Menschen, die sich wirklich lieben, einander sagen:
»Ich hab dich gern«, gehen beide davon aus, dass sie die Wahrheit
sagen – auch wenn sie früher oder später feststellen müssen oder
dürfen, dass es auch immer noch ein ‚Mehr’ an Liebe und darum
auch ein ‚Mehr’ an Wahrheit gibt. Die Aussage »ich liebe dich«
enthält nicht eine absolute oder starre Wahrheit; Liebe soll und
darf sich ja immer noch vertiefen oder entfalten können.
Das alles gilt auch für
religiöse oder theologische Wahrheiten. Schade, dass wir – gerade
auch wir Prediger und Theologen! – das immer wieder vergessen und
so tun, als ob es absolute Wahrheiten gebe, an denen nicht zu rütteln
ist und die man einfach ‚haben’ kann. In den Abschiedsreden des
Johannesevangeliums bringt Jesus die ganze ungehemmte Dynamik der
Wahrheit auf den Punkt:
Wenn aber jener kommt,
der Geist der Wahrheit,
wird er euch in
alle Wahrheit führen (16,13).
Die Wahrheit ‚ist’
nicht einfach so, und wir ‚haben’ sie auch nicht. Der Geist, der
im Kommen ist, wird uns in die volle Wahrheit einführen.
Hermann-Josef
Venetz
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