mardi 14 juillet 2015

Wahrheit – dynamisch



Von Wahrheit haben wir meist eine statische oder starre Vorstellung. Wenn etwas wahr ist, dann ist es einfach so wie es ist. Zwei mal zwei sind vier; das ist einfach so, und auf der ganzen Welt ist das so. Und auch in hundert Jahren wird es so sein.
Dieser Wahrheitsbegriff eignet sich im täglichen Leben, wenn wir zählen, rechnen, messen, wiegen; es gibt wissenschaftlich überprüfbare Wahrheiten, Gesetzmässigkeiten, Naturgesetze, auf die wir uns verlassen können. Wenn ich ins Wasser springe, werde ich nass und wenn sich ein Ziegel vom Dach löst, fällt er herunter.
Für die meisten Ereignisse oder Geschehnisse in unserem Leben reicht dieser Wahrheitsbegriff nicht aus, so wenn wir lieben, hoffen, uns freuen, leiden. Unsere Trauer lässt sich nicht in Zahlen und Gewichten messen, und Kindern, die tanzen und lachen kann ich nicht sagen: »Das ist doch alles gar nicht wahr, was ihr da macht!« Wenn sich in unserem Leben Geschehnisse nicht in Zahlen und Gewichten ausdrücken lassen, bedeutet das nicht, dass sie deswegen weniger ‚wahr’ sind. Wenn zwei Menschen, die sich wirklich lieben, einander sagen: »Ich hab dich gern«, gehen beide davon aus, dass sie die Wahrheit sagen – auch wenn sie früher oder später feststellen müssen oder dürfen, dass es auch immer noch ein ‚Mehr’ an Liebe und darum auch ein ‚Mehr’ an Wahrheit gibt. Die Aussage »ich liebe dich« enthält nicht eine absolute oder starre Wahrheit; Liebe soll und darf sich ja immer noch vertiefen oder entfalten können.
Das alles gilt auch für religiöse oder theologische Wahrheiten. Schade, dass wir – gerade auch wir Prediger und Theologen! – das immer wieder vergessen und so tun, als ob es absolute Wahrheiten gebe, an denen nicht zu rütteln ist und die man einfach ‚haben’ kann. In den Abschiedsreden des Johannesevangeliums bringt Jesus die ganze ungehemmte Dynamik der Wahrheit auf den Punkt:
Wenn aber jener kommt, der Geist der Wahrheit,
wird er euch in alle Wahrheit führen (16,13).

Die Wahrheit ‚ist’ nicht einfach so, und wir ‚haben’ sie auch nicht. Der Geist, der im Kommen ist, wird uns in die volle Wahrheit einführen.
Hermann-Josef Venetz

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