Die
Vision des Menschensohns (Dan 7)
Eine
der eindrücklichsten Visionen, die uns das Buch Daniel schildert,
ist die des Menschensohns. Das Volk der Juden befand sich in einer
sehr schlimmen Lage – es war die Zeit der Verfolgung durch
Alexander IV. Epiphanes (175-164 v. Chr.). Die Geschichte Gottes mit
seinem Volk schien zu Ende zu gehen. Und doch gab der Seher Daniel
seine Hoffnung nicht auf. Was seine Glaubensbrüder und –schwestern
bereits alles erlebt hatten, erschien ihm in Gestalt von vier
schrecklichen Tieren, die eines nach dem anderen aus dem Meer, dem
Ort des Unheils gekommen waren. Die vier Tiere waren Sinnbilder der
menschenverachtenden Regime, unter denen die Frommen zu leiden
hatten: das babylonische, das medische, das persische Reich und das
des Alexanders des Grossen. Im weiteren Verlauf der Vision hält Gott
über diese Reiche Gericht. Denn wenn Gott zu seinem Wort steht –
und darüber durfte es keinen Zweifel geben – dann wird er diese
Reiche in die Ecke stellen und so sein Volk erretten.
Im
nächsten Akt sah Daniel in seiner Vision eine lichte Gestalt vom
Himmel her kommen wie
ein Menschensohn.
Ihm
wurden Herrschaft, Würde und Königtum gegeben; alle Völker,
Nationen und Sprachen sollten ihm dienen…
(vgl. Dan 7,13-14)
So
viel dürfte klar sein: So wie die vier Tiere aus dem Meer vier
Reiche versinnbildlichten, so geht es auch bei ihrem Gegenüber, dem
Menschensohn,
zuerst einmal um ein Reich. Im Unterschied zu den grossen
Tieren
aus dem dunklen Meer handelt es sich jetzt um eine lichte,
menschliche
Gestalt, als Zeichen eines lichten, menschlichen Umgangs der
Menschen miteinander. Der Menschensohn
also als Zeichen für die Treue und Menschenfreundlichkeit Gottes,
der das Dunkle und Menschenverachtende überwinden und dem Hellen,
der Menschenwürde zum Sieg verhelfen wird.
Als
fast 200 Jahre später Jesus
in Galiläa auftrat, erinnerten sich seine Jüngerinnen und Jünger
an Daniels Vision. Sie sahen in Jesus jenen Menschensohn, der
inmitten einer Welt von Gewalt und Hass ein ganz anderes „Regime“,
nämlich das Reich
Gottes ankündigte
und praktizierte.
Hermann-Josef
Venetz
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