Beten als Wundermittel?
Als
Jugendliche haben wir es gelernt, und zwar bei unseren verehrten Lehrern am
katholischen Gymnasium: Es ist schon richtig, für das gute Gelingen eines
Examens zu beten; aber das Beten ersetzt das Studieren nicht. Eine
Binsenwahrheit, würde man meinen. In Wirklichkeit wird diese Wahrheit immer
wieder verdrängt. Der Beispiele gibt es genug.
- Wir beten für den Frieden in
der Welt; an unserer Armee und unserer Waffenausfuhr soll es aber nichts zu
rütteln geben.
- Wir beten für die Hungernden in
der Welt; das hindert uns aber nicht daran, unseren Benzintank mit Kraftstoff
zu füllen, der aus Getreide gewonnen wird, das vielen Hungernden fehlt.
- Wir beten für ein engeres
Zusammenrücken der Völker und Nationen; aber wir schreien auf, sobald es an
unseren Geldsack und an unsere wirtschaftliche Entwicklung geht.
-
Bei der Eucharistiefeier betet der Priester: Mache die Kirche zu einem Ort der Wahrheit und der Freiheit, der
Gerechtigkeit und des Friedens; der Vatikan weigert sich aber bis heute,
die Menschenrechtskonvention zu unterzeichnen.
Eine bekannte Erzählung in neuer
Version lautet so:
Ein
Mann ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die
plünderten ihn aus, schlugen ihn, liessen ihn halbtot liegen und machten sich
davon.
Zufällig kam da einer vorbei. Er sah den
Zusammengeschlagenen, ging dann aber an ihm vorüber. Ein zweiter, der des Weges
kam, machte es ebenso. Es kam ein dritter. Der blieb stehen, stieg vom Pferd
und sagte dem Halbtoten mit deutlich vernehmbarer Stimme: Ich werde für dich
beten...
Beten
ersetzt nicht das Studieren, auch nicht das Zuhören, auch nicht das Reden
miteinander, auch nicht die tätige Hilfe, auch nicht den Protest. Menschen, die
schnell das »Wundermittel Gebet« zu Hand haben, verdienen gewiss meine Ehrerbietung;
ihre Menschenverachtung macht mir bisweilen Angst.
Hermann-Josef Venetz
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