Ein
Blick auf Jesus
Mit
der Liturgie haben wir unsere liebe Not. Das überrascht mich nicht,
wenn ich feststellen, dass es den ersten Christinnen und Christen
nicht anders ergangen ist. Warum eigentlich? Ich denke, es liegt
(wieder einmal) an Jesus. Im Lesen der Evangelien mache ich folgende
drei Beobachtungen.
1.
Als frommer Jude nahm Jesus an den liturgischen Feiern und
Gottesdiensten seiner Zeit teil. Er ging gewohnheitsmässig in die
Synagoge (Markus 3,1 u.ö.), suchte den Tempel auf (12,35
u.ö.), feierte mit den Seinen das Passahmahl (14,12ff), sang und
betete die liturgischen Lieder und Gebete (14,26) und kannte und
vollzog die liturgischen Gesten: Er warf sich nieder (14,35), er
erhob die Hände, er blickte zum Himmel, er sprach das Segensgebet
(6,41; 7,34). Seine Gefolgschaft verstand ihn als Meister des Gebets:
Er sollte die Seinen beten lehren (Lukas 11,1). All diese Szenen
zeigen Jesus in der guten alten Tradition der Gottesdienste seiner
Zeit.
2.
Ein zweiter Blick auf Jesus von Nazaret sagt mir aber auch, dass er
den Gottesdiensten und Liturgien seiner Zeit nicht unkritisch
gegenüberstand. Es kam vor, dass er beim Gottesdienst am Sabbat die
Akzente anders setzte, so wenn er den Mann mit der gelähmten Hand in
die Mitte rief und ihn heilte (Markus 3,1-6) oder die Sorge um
die Eltern als wichtiger ansah als die Opfergabe (7,6-13). Das
sichtbare Sich-hin-Stellen zum Gebet in den Synagogen und an den
Strassenecken entlarvte er als Schauspielerei (Matthäus 6,5). Vom
Herr-Herr-Sagen, von Exorzismen und Wunderwirken hielt er nicht eben
viel (7,21-23). Sein machtvolles Auftreten im Tempel und sein
prophetisches Wort gegen das Gotteshaus haben viele Menschen damals
vor den Kopf gestossen (Markus 11,15-19; 14,55-58). Auch hier stand
Jesus in einer guten alten Tradition: in der Tradition der Propheten,
die mit ihrer Kritik am Tempel und an den Gottesdiensten nicht
sparten (vgl. z.B. Amos 5,21-27; Jeremia 7,1-11; Jesaia 58).
3.
Und wenn ich noch einen weiteren Blick auf Jesus von Nazaret werfe,
stelle ich eine gewisse ‚liturgische Kreativität’ fest: Er
umarmt Kinder, legt ihnen die Hände auf und segnet sie (Markus
10,16) – Gesten, die liturgisch anmuten. Wie Liturgien hören sich
auch die Berichte von den Blindenheilungen an (Markus 8,22-26; Lukas
18,35-43). Der Einzug Jesu in Jerusalem trägt die Züge einer
Prozession (Markus 11,1-11). Das Letzte Mahl mit den Jüngern
berichtet von Gesten und Deuteworten, die damals ungewohnt waren
(Markus 14,22-25).
Das
alles ist jetzt vielleicht etwas verwirrend, aber es passt doch
eigentlich recht gut in das Bild, das uns die Evangelien von Jesus
zeichnen: sein Eingebundensein in das Volk, zu dem er gesandt ist,
das Prophetische, ohne das er gar nicht zu verstehen ist, das
Eigenständige, das immer wieder überrascht. Ist es so
verwunderlich, wenn auch die ersten christlichen Gemeinden und ihre
Gottesdienste ähnliche Züge tragen?
Hermann-Josef
Venetz
Aucun commentaire:
Enregistrer un commentaire