Flüchtlinge in
der Mitte
Jedes
Mal wenn ich die Bibel öffne, bin ich überrascht, wie oft dort
Menschen, ja ganze Sippen und Völkerschaften auf der Flucht sind.
Von daher versteht sich auch, dass in der alttestamentlichen
Gesetzgebung so oft von Flüchtlingen und Fremden die Rede ist. Ja,
man hat den Eindruck, als ob das Auf-der-Flucht-Sein und Fremd-Sein
zum Wesen der jüdisch-christlichen Tradition gehören. Das schlägt
sich sogar im Glaubensbekenntnis nieder.
Das
fünfte Buch Mose, es wird auch »Deuteronomium« genannt, ist eine
Sammlung von Reden, in denen Mose das Volk Israel, nachdem es während
vierzig Jahren auf der Flucht war, auf das Sesshaftwerden im Gelobten
Land vorbereitet. Der Abschnitt, den ich vor Augen habe, erinnert an
eine Liturgie, in die hinein ein Glaubensbekenntnis eingebettet ist
(26,1-11):
Wenn
du das Land, das der Ewige, euer Gott, euch geben will, in Besitz
genommen und dich darin eingerichtet hast, dann
sollst du die ersten Früchte deiner Ernte in einen Korb legen… und
vor Gott bringen. Und sollst vor dem
Ewigen, deinem Gott, folgendes Bekenntnis ablegen:
Mein
Vater war ein heimatloser Aramäer. Als er am Verhungern
war, floh er mit seiner Familie nach Ägypten und lebte dort
als Fremder. Mit einer Handvoll Leuten kam er hin, aber seine
Nachkommen wurden dort zu einem großen und starken Volk.
Die Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns
rechtlos und zwangen uns zu harter Arbeit. Da schrien
wir zum Gott unserer Väter, und er hörte uns und sah unsere
Rechtlosigkeit, unsere Arbeitslast und unsere
Bedrängnis. Er führte uns mit
starker Hand … aus Ägypten heraus und brachte uns an diese Stätte
und gab uns dieses Land, das von Milch und Honig überfliesst.
Und siehe, nun bringe ich hier die ersten Erträge von den
Früchten des Landes, das du, Gott, mir gegeben hast…
Den
Bildern, mit denen die Tragik der Flucht beschrieben wird, begegnen
wir jeden Tag in unseren Medien: Hunger, Obdachlosigkeit, Fremdheit,
Rechtlosigkeit, Zwangsarbeit, Bedrängnisse aller Art.
Ebenso
sehr beeindrucken mich aber auch die Äusserungen am Ende der
Ausführungen:
Wenn
du den Korb mit den Früchten des Landes vor den Altar gestellt hast,
sollst du dich vor Gott niederwerfen. Dann
sollst du fröhlich sein und dich freuen über alles Gute, das dein
Gott dir und deiner Familie gegeben hat: du, die Leviten und die
Fremden in deiner Mitte.
Sich
mit den Fremden in unserer Mitte freuen können, ist nicht so sehr
eine Zumutung als vielmehr eine Verheissung.
Hermann-Josef
Venetz
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