Ältere
unter uns mögen sich vielleicht erinnern, dass in unserem Religions- und
Ethikunterricht der Verzicht eine große Rolle spielte und dass alles, was mit
Lust und Genuss zu tun hatte, verdächtig war. Ja, selbst über jedes unnütze
Wort hatten wir, wenn es denn soweit ist, Rechenschaft abzulegen. Mit dem
‚Willen Gottes’ wurden eher Kreuz und Leid in Zusammenhang gebracht als Fest
und Tanz.
Im
Unterschied dazu kann man im Judentum eine auffallend grosse Lebensbejahung und
Kreativität feststellen. Woher das kommt, ist schwer zu sagen. Vielleicht hat
sich das jüdische Volk trotz oder wegen seiner Leidensgeschichte ein feineres Gespür und eine grössere
Dankbarkeit für die kleinen Freuden und Belustigungen des Lebens bewahrt.
Tatsächlich fanden und finden in den Diskussionen der jüdischen Gelehrten
Prüderie und Lustfeindlichkeit kaum Platz; dagegen spielte das Vergnügen eine umso
größere Rolle. Kurz nach der Zeitenwende taten berühmte und sehr ernste
jüdische Gelehrte diesen Ausspruch: Wenn
die alte Welt zur Neige geht und Gottes neue Welt anbricht muss der Mensch
Rechenschaft ablegen über alles, woran sein Auge Gefallen fand und was er
dennoch nicht genoss.
Gewiss
haben die Gelehrten damals nicht nur an das Auge gedacht. Gefallen finden wir
doch auch an einem schönen Musikstück, an einem guten Essen, am Duft des
Waldes, an einem erheiternden Witz, an der Unbeschwertheit der Kinder, am
Übermut der Jugendlichen... Wir haben einmal Rechenschaft abzulegen über alles
Schöne und Vergnügliche, das wir nicht genossen haben.
Es ist
ja nicht so, dass Jesus nur Selbstverleugnung und Verzicht gepredigt hätte. Wie
oft hat er doch mit verschiedenen Leuten gegessen und getrunken (vgl. Markus
2,15-17 u.ö.). Kindern legte er die Hände auf und umarmte sie (vgl. Markus
10,16). Sein Hinweis auf die Vögel des
Himmels und auf die Lilien des Feldes
(Matthäus 6,25-34) und die vielen Gleichnisse, die von den Wundern der Natur
inspiriert sind, machen es deutlich: Jesus hat das alles nicht nur gesehen, er
hat es auch genossen und gekostet. Und zu seinem Gedächtnis sollen diejenigen,
die ihm vertrauen, zu einem Mahl zusammenkommen mit Brot und Wein...
Glauben
bedeutet doch auch, sich von der Lebensfreude Jesu anstecken zu lassen.
Hermann-Josef
Venetz
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