Das Gleichnis vom »Letzten
Gericht« (Matthäus 25,31-46) erinnert uns daran, dass wir alle einmal vor der
Letzten Instanz zu erscheinen haben. In der Einleitung des Gleichnisses wird
diese Letzte Instanz Menschensohn und
König genannt. Mit König verbindet unsere Fantasie Thron,
Glanz und Majestät. Was uns allerdings im Verlauf der königlichen Rede
entgegentritt, sind ganz andere Majestäten, als wir sie uns vorstellen: Scharen
von Hungernden, Fremden, Gefangenen, Asylanten, Zerlumpten.
»Nicht euch haben wir gemeint«,
so protestieren wir, »wir wollen vor seine Majestät gebracht werden; nur den
König akzeptieren wir als Letzte Instanz!« Und die Stimme seiner Majestät wird
antworten: »Es gibt keine andere Instanz, keine andere Majestät neben oder
hinter diesen Hungernden, Fremden, Gefangenen, Asylanten, Zerlumpten; denn was ihr ihnen getan habt, das habt ihr mir
getan, und was ihr ihnen nicht getan habt, das habt ihr mir nicht getan.«
***
An die Letzte Instanz möchten wir
aber einmal auch aus eigenem Antrieb gelangen, und wir werden uns weder von
Hungernden noch von Fremden abwimmeln lassen. Diesmal soll sich Gott um seine
Rolle als Letzte Instanz nicht mehr drücken können. Unsere Vorwürfe werden laut
und deutlich sein: »Wo warst du denn in Auschwitz und in Nagasaki? Wo warst du,
als der Tsunami vielen tausend unschuldigen Menschen das Leben nahm? Wo warst
du bei den unzähligen Erdbeben und Überschwemmungen und Hungersnöten? Wozu heisst
du denn der Allmächtige?«
Und wieder wird uns eine ganz
andere Majestät begegnen: ein Zerschundener. Als einziges Zeichen seiner Macht
trägt er eine Dornenkrone, weil er nicht allmächtig, sondern solidarisch sein
will mit all den Zerschundenen, Hungernden, Fremden. Vielleicht blickt er uns
nur schweigend an. Vielleicht hören wir ihn nur leise sagen: »Und du?, wo bist
denn du?«
Hermann-Josef
Venetz
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