Hoffen
ist anders
Der
Pessimist sagt: »Ich bin kein Pessimist, ich bin Realist; ich
betrachte die Dinge so, wie sie sind.« Der Optimist sagt: »Ich bin
kein Optimist, ich bin Realist; ich betrachte die Dinge so, wie sie
sind.«
Solche
Aussagen sind verständlich. Der Pessimist steht im Verdacht, ein
Schwarzseher zu sein und die Dinge schwärzer zu sehen, als sie sind.
Der Optimist steht im Verdacht, blauäugig zu sein und die Dinge in
helleren Farben zu sehen, als sie sind.
Sowohl
Optimisten als auch Pessimisten möchten Realisten sein. Sie haben
auch gute Gründe für ihre jeweilige Weltsicht, ohne dass ihnen
Weltfremdheit vorgeworfen werden muss. Ihre Gründe sind ernst zu
nehmen, sind überprüfbar und oft auch nachvollziehbar. Es gibt gute
Gründe, die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz optimistisch
einzuschätzen. Es gibt aber auch gute Gründe, die wirtschaftliche
Entwicklung der Schweiz pessimistisch zu sehen. Kann sein, dass
morgen die Einschätzung wieder eine ganz andere sein wird.
Hier
ein anderes Beispiel. Es gibt Tage, an denen ich die Entwicklungen in
der Kirche eher pessimistisch einschätze. Dann gibt es aber auch
Tage, an denen ich die selben Entwicklungen eher optimistisch
betrachte. Sowohl meinen Optimismus wie auch meinen Pessimismus kann
ich durch meine so genannte realistische Einschätzung gut begründen:
Es gibt konkrete Beobachtungen und Erfahrungen; es gibt Belege aus
der Geschichte; es gibt Berechnungen und Prognosen von Leuten, die es
doch wissen müssen. Freilich können diese Berechnungen und
Prognosen morgen wieder andere sein.
Hoffnung
ist etwas anderes. Sie ist ‚jenseits’ von Optimismus und
Pessimismus. Sie gründet nicht auf Einschätzungen und Berechnungen
und Prognosen, so realistisch diese auch sein mögen. Hoffnung hat
etwas mit Glauben zu tun. Darunter verstehe ich nicht Theologie oder
ein besonderes Wissen. Unter Glauben verstehe ich eine Beziehung.
Eine Beziehung zu einem Du.
Um
es mit anderen Worten zu sagen: Mich trägt nicht der Optimismus,
auch nicht mit allen seinen guten und realistischen Gründen – es
wäre das für mich eine zu schmale Basis. Mich trägt die Beziehung
zu einem Du, das ich Gott nenne. Und dieses Du wechselt nicht
alle paar Tage. Es ist das Du, das mich ins Leben ruft und beim Namen
nennt, das mit mir etwas vorhat und mir etwas zumutet und mich auch
dann noch trägt, wenn alle Berechnungen und Prognosen nach unten
zeigen.
Hermann-Josef
Venetz
Aucun commentaire:
Enregistrer un commentaire