EIN
BLICK AUF DIE ANFÄNGE DER KIRCHE (2)
Armenian miniature
Die
Gemeinde des Messias Jesus
Die
Jesusforschung der letzten Jahrzehnte hat das Jesusbild entscheidend
korrigiert. Er wurde nicht mehr dem damaligen Judentum
gegenübergestellt. Er war ein Jude vom ersten bis zum letzten
Atemzug und hatte nie im Sinn, sich vom Judentum abzusetzen oder gar
eine neue Religion zu gründen. Zum andern ist aber Jesus auch
stärker in seine unmittelbare Mitwelt einbezogen worden. Die
Jüngerinnen und Jünger waren nicht einfach sein Fan-Club.
Beauftragt
mit der Königsherrschaft Gottes. Man
darf annehmen, dass die Leute damals gewisse messianische Erwartungen
an Jesus herangetragen haben. Ist er ein Prophet? Ist er der Messias?
Beim unbefangenen Lesen der Evangelien hat man den Eindruck, dass
diese Fragen und Erwartungen Jesus eher unangenehm waren. In der
Mitte seiner Verkündigung stand nicht er, sondern das Reich Gottes.
Die messianischen Erwartungen, die in der Luft lagen, übertrug er
auf jene Bewegung, die er zur Verkündigung und zur Praxis der
Königsherrschaft Gottes ins Leben rief. Auf die Frage nach dem Wie
und Wann der Herrschaft Gottes antwortet er mit dem Hinweis auf seine
Jüngerinnen und Jünger, auf jene kleine
Herde,
der der Vater die Königsherrschaft übergeben hat (Lukas 12,32) oder
denen das Geheimnis
des Reiches Gottes
gegeben ist (Markus 4,11).
Solidarisch
mit den Ausgegrenzten. Die
Frauen und Männer um Jesus zeichneten sich dadurch aus, dass sie
sich mit den Randständigen solidarisierten und so selbst zu
Randständigen wurden. Sie verloren ihre gesellschaftliche Stellung
und wurden bald schon zu den Missachteten, zu den Unreinen und
Sündern gezählt, wie denn die Gegner auch Jesus als Fresser
und Weinsäufer,
als Freund
von Zöllnern und Sündern
wahrnahmen (Lukas 7,34).
Der
Kreis, der Jesus folgte, war eine Gemeinschaft von
Gleichgestellten. Im Unterschied zu anderen Gruppierungen gab es
hier keine Über- und Unterordnung, kein Oben und Unten, kein Zentrum
und keine Peripherie (vgl. Markus 10,42-45 u.ö.). Und vor allem: Die
Frauen galten nicht weniger als die Männer. Der nur aus Männern
bestehende Zwölferkreis sollte das Zwölfstämmevolk
symbolisieren. Als Symbol war das nur verständlich, wenn der Kreis
auf Männer begrenzt war – unter den Stammvätern gab es ja keine
Frauen. Dabei waren nicht die Männer wichtig, wichtig war die
Erinnerung an jene grosse Vergangenheit, in der das ganze Volk,
Männer und Frauen als Königreich von Priestern und als
heiliges Volk galt (Exodus 19,4-6).
Die
vorrangige Option für die Armen und Leidenden. Von
entscheidender Bedeutung sind auch jene Akzentsetzungen, auf die in
den letzten Jahrzehnten die verschiedenen Befreiungstheologien und
nicht zuletzt Papst Franziskus aufmerksam gemacht haben. Jesu
vorrangige Option für die Armen hat Jesus nicht nur gelebt, er hat
auch diejenigen, die ihm folgten, darauf verpflichtet.
Auch
wenn die heutige Kirche in einem ganz anderen Umfeld lebt, wird sie
von diesen Besonderheiten der damaligen Jesusbewegung nie absehen
können.
Hermann-Josef
Venetz
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