mercredi 17 juin 2015

Mensch werden




 An keinem anderen christlichen Fest wird für so viel unnützes Zeug so viel Geld ausgegeben wie an Weihnachten, Geld, das die Obdachlosen und Flüchtlinge so bitter nötig hätten.
Was uns Menschen in unserer Beziehung zu Gott und zu Weihnachten zu schaffen macht, ist die Tatsache, dass Gott Mensch geworden ist. Wenn Gott einfach ‚Gott’ geblieben wäre, wüssten wir, woran wir sind. Dann hätten wir klare Verhältnisse: hier der Mensch – dort ‚Gott’. Diesen ‚Gott’ sind wir durchaus bereit zu verehren, zu ihm zu beten; wir sind bereit, ihm Tempel, Kirchen und Altäre zu bauen und seine Priester zu besolden. Er darf durchaus etwas kosten, dieser ‚Gott’. Bedingung ist freilich diese: dass ‚Gott’ berechenbar bleibt, dass Distanz gewahrt wird, dass wir von unliebsamen Überraschungen verschont bleiben, dass dieser ‚Gott’ sich nicht unversehens in unsere Geschäfte einmischt, sondern dass wir eine ganz klare Trennung haben zwischen Religion und Politik, zwischen Sonntag und Werktag, zwischen Glauben und Geschäft, zwischen gut und bös...
Mit der Menschwerdung hat ‚Gott’ die klare, von uns Menschen gezogene Grenze überschritten; und das Überschreiten klarer Grenzen erzeugt Bedrohung und Angst. Was uns verunsichert, ist nicht ‚Gott’, sondern der Mensch, genauer gesagt der Mensch, mit dem sich dieser Gott identifiziert: der Arme, die Ausgebeutete, der Ohnmächtige, der Flüchtling. Um uns von diesem menschgewordenen, machtlos gewordenen Gott zu schützen, sind uns alle, selbst religiöse Mittel recht, sind wir bereit, selbst Weihnachten, das Fest der Menschwerdung Gottes zu pervertieren.
Der Glaube an die Menschwerdung Gottes ruft nach einer ganz entschiedenen und bedingungslosen Parteinahme für die Schwachen, die Armen, die Zukurzgekommenen, die Verfolgten und Gekreuzigten.
Der Glaube an die Menschwerdung Gottes befreit uns dazu, an die Menschwerdung des Menschen – an unsere eigene Menschwerdung –zu glauben.
Hermann-Josef Venetz

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