Herbst
1989. In der DDR gingen die Menschen zu Tausenden auf die Strasse.
Die Fluchtwelle war bereits im vollen Gange.
In
diesen Tagen kamen in unseren Radio- und Fernsehsendungen,
verschiedene Polit- und Kulturgrössen zu Wort. Unter ihnen Stefan
Heym, der bekannte Schriftsteller. Ihm wurde die Frage gestellt,
warum die Leute, besonders die Jungen, die DDR verlassen. Diese seien
doch während Jahren im Geist des Sozialismus erzogen worden. Schon
mit der Muttermilch sei ihnen eingeflösst worden, dass es gar nichts
Besseres und nichts Wahreres gebe als die DDR. Die Antwort Heyms gab
mir zu denken. Sinngemäss sagte er: Der Grund für das Verlassen des
Landes liege im Auseinanderklaffen von Ideal und Wirklichkeit.
In
der Tat: Demokratie klingt wie ein Hohn, wenn weder in der
Gemeinde noch am Arbeitsplatz auch nur ein Hauch von Mitbestimmung
gefragt ist. Volk klingt wie eine Beleidigung, wenn man
bedenkt, dass dieses Volk sich ja nirgends artikulieren kann ausser
in erzwungenen Kundgebungen und in manipulierten Wahlen. Auf die
Dauer kann kein Mensch dieses grosse Gefälle ertragen; entweder er
erkrankt, wird depressiv, er steigt auf die Barrikaden oder verlässt
das Land.
Zu
denken gaben mir diese Äusserungen von Stefan Heym, weil gewisse
Parallelen auf der Hand liegen. Immer mehr Menschen verlassen die
Kirche. Sie tun das unauffällig. Sie sind durchaus bereit, weiterhin
Kirchensteuern zu bezahlen und gewisse Dienstleistungen wie Taufe,
Trauung und Beerdigung in Anspruch zu nehmen. Aber darüber hinaus
reicht ihr Engagement nicht.
Die
Gründe für diese »stille Emigration« sind nicht leicht zu
benennen. Zu leicht machen es sich gewisse kirchliche Kreise, wenn
sie die Schuld daran den Leuten, dem Materialismus oder der
Säkularisierung in die Schuhe schieben. Vielleicht sollte man sich
auch bei uns fragen, wie es denn mit der Kluft zwischen Ideal und
Wirklichkeit steht und ob Wortreichtum wirklich genügt, um diese
Kluft zu überwinden. Auch in der Kirche spricht man gerne vom Volk,
vom Volk Gottes. Wenn man aber nach den Rechten dieses Volkes
fragt, ist man doch ziemlich perplex: Rechte im eigentlichen Sinn
gibt es nur für gewisse Schichten und Stände.
Von
Gemeinschaft ist viel die Rede und von Mündigkeit, ja
selbst Räte werden eingesetzt, und es gibt dafür sogar Wahlen. Man
lässt die Leute sogar diskutieren. Aber Entscheidungsbefugnis
haben sie keine; sie können sich höchstens dazu entscheiden, dem
Vorgesetzten einen Rat zu erteilen.
Auch
Gleichberechtigung wird gross geschrieben, und man spricht
gerne von Brüdern und Schwestern und von geschwisterlicher
Kirche. Wenn es dann aber darauf ankommt, sind es doch nur die
Brüder, die das Sagen haben, während die Schwestern
dazu da sind, die Kirchen zu füllen, die Säle mit Blumen zu
schmücken, den Orgeldienst zu versehen und – wenn es hoch kommt –
die von den Brüdern bestimmten Texte vorzutragen.
Von
der damaligen Wende in den Oststaaten wäre immerhin dieses zu
lernen: All die Worthülsen mit ihren Idealen – mögen wir sie noch
so fleissig wiederholen und lautstark predigen: solange diese Ideale
nicht »greifen«, nicht irgendwo einen Berührungspunkt haben mit
der konkreten Wirklichkeit, wird das ganze Bemühen nicht nur
umsonst, sondern gar kontraproduktiv sein. Die Leute – die
Arbeiter, die Jugendlichen, die Frauen – werden weiterhin in
Scharen die Kirche verlassen. Ob es laut oder leise geschieht, tut
nicht viel zur Sache.
Hermann-Josef
Venetz
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